Ich bin in Ullapool, das ist schon ziemlich weit nördlich an der Westküste, aber noch nicht ganz „oben“. Ich stehe auf dem perfekten Platz direkt am Wasser auf dem Campingplatz und genieße die Sonne. Gestern bin ich schon angekommen, habe dieses kleine schöne Städtchen erkundet, eine Schottin kennengelernt, die sich schon so sehr auf ihren Deutschlandurlaub in Leipzig und Dresden und der Sächsischen Schweiz freut und mir von der Landschaft vorgeschwärmt hat, die sie bisher nur von Bildern kennt. Ich kann ihr da nur beipflichten 🙂 und finde es total schön, das mal jemand so von der Ecke schwärmt, aus der ich so in etwa stamme. Aber witzig ist es ja schon, das man immer das so schön und spannend findet, wo man nicht wohnt – ich meine, sie wohnt in Schottland, an der wilden und wunderschönen Westküste, einer Gegend, die vermutlich auf vielen „Da-möchte-ich-mal-hinreisen“ – Listen steht.
Ich sitze also in der Sonne und lese und schiebe den Wanderausflug, den ich eigentlich für heute geplant habe, noch ein bisschen raus, ist ja grade so schön … es wird dann doch kühler und dann dunkler und dann prasselt mit einem Mal (wenn ich vielleicht mal vom Buch hochgeschaut hätte, wäre ich nicht ganz so überrascht gewesen 😉 ) der Regen so auf uns alle herunter. Obwohl ich recht zügig einfach alles in Emma werfe, sitze ich dann doch recht nass drinnen, schaue mir dieses Unwetter an und kann (das ist das Gute) ohne jedes schlechte Gewissen weiterlesen 🙂 (In Ullapool gibt es zwei wunderschöne kleine Buchläden, da bin ich dann doch schwach geworden). Es blitzt und donnert und wird auch nachmittags nicht mehr besser. Als ich am nächsten Morgen wach werde und sich auch noch ein recht heftiger Sturm zur Regenfront gesellt hat, gebe ich mal kurz wieder auf und suche mir auf Airbnb eine Bleibe. Nur Regen, ok. Nur Wind, ok. Aber beides gleichzeitig und gefühlt nicht nur von oben, sondern von mindestens drei Seiten, nö – das wird mir dann doch ein bisschen ungemütlich.
In einem kleinen Nest namens „Lochinver“ habe ich ein schönes Plätzchen gefunden. Die Airbnb Gastgeberin, die auch selbst im Haus wohnt, ist die perfekteste Gastgeberin – kaum biegen Emma und ich um die Ecke, springt sie aus ihrem Haus, winkt und weist uns munter ein und ihre quasi ersten Worte danach sind: „Komm erstmal an, ich setze uns Wasser auf und koche erstmal einen Tee.“ Ein Traum! Das Zimmer ist wunderschön, hat ein eigenes Badezimmer (hach, was für ein Luxus!) und die Küche einen Blick auf (aktuell noch nebelverhangene) Berge. Das Häuschen selber liegt ganz abseits praktisch mitten in den Bergen ohne direkte Nachbarn – zumindest keine menschlichen, denn abends sitzen wir die kommenden Tage immer am Küchentisch, trinken Tee, quatschen und beobachten die Tierwelt draußen, die durch großzügige Nuss- und Obstspenden auf der Terrasse magisch angezogen wird und direkt vor unserer Nase abends einen Imbiss nimmt – ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich sehe zum ersten Mal aus direkter Nähe einen Dachs und einen Marder (der keine Autos mag, versichert sie mir) und eine kleine Maus huscht auch immer mal wieder von links nach rechts. Absolute Idylle hier – und da seit dem heftigen Unwetter, das ich noch in Ullapool erlebt habe, hier das WLAN nicht mehr vorhanden ist, gibt es auch gar nicht viel, was ablenken könnte 😉

Trotz Regen (aber nicht mehr dauerhaft) zeigt meine Gastgeberin mir die schönsten Strände in der Umgebung und die Ruinen eines 2000 Jahre alten „Brochs“, eines Turms, die hier wohl ganz oft an der Küste Schottlands stehen und schon eine gewisse Magie ausstrahlen.



Und dann fragt meine Gastgeberin mich abends, ob ich eigentlich den Film „Edie“ kenne…
Kennt den jemand hier? Ein wunderschöner „kleiner“ schottischer Independent-Film, der von einer älteren Frau handelt, die sich mit Mitte 80 ihren Lebenstraum erfüllt und auf den Berg „Suilven“ wandert, kein allzu leichtes Unterfangen. Ich mag den Film sehr, habe ihn vor drei oder vier Jahren mal durch Zufall gesehen und mir danach vorgenommen, mal nach Schottland zu reisen (möglichst vor meinem 80. Geburtstag 🙂 ) Allen, die auch ruhige Filme mögen und die damit klar kommen, das es weder eine Schießerei, noch einen Mord, keine Verfolgungsjagden, keine Superhelden und keine Außerirdischen gibt, dafür aber traumhaft schöne Landschaft und eine sehr rüstige und abenteuerlustige 80-jährige Hauptdarstellerin und ein bisschen Werbung für Outdoorhersteller (irgendwie muss der Film ja finanziert worden sein), denen kann ich den Film sehr empfehlen 🙂
Also ja, den Film kannte ich und ich wollte eigentlich immer mal nachschauen, wo denn dieser Berg wohl liegt und ob man da vielleicht wirklich mal hochwandern könnte… ich hatte natürlich nicht nachgeschaut, Planung ist ja nicht so mein Ding 😉
Und dann erzählt mir meine Gastgeberin, das der Film hier im Dörfchen gedreht wurde und der Berg 5 Meilen entfernt liegt und man da sehr wohl in zwei Tagen oder an einem sehr anstrengenden Tag hochwandern kann, das es halt schon ein paar knifflige Stellen gäbe, ich das aber bestimmt „locker“ schaffen würde…
Na klar, immer noch sehr überrascht und begeistert, das ich durch reinen Zufall hier gelandet bin, wo ich schon immer mal hinwollte, habe ich meinen Aufenthalt um zwei Nächte verlängert und bin dann am nächsten Tag los … Ich starte auf einem kleinen Wanderparkplatz, der leider noch etwas weiter entfernt als ursprünglich gedacht vom eigentlichen Startpunkt liegt. Angeblich wird die kleine Straße zum richtigen Startpunkt gerade gebaut – das hat mir zumindest der etwas griesgrämig guckende Ranger erklärt, als ich doch tatsächlich erstmal munter mit dem Auto weiterfahre und ein auf dem Boden neben der Straße liegendes Schild mit der Aufschrift „Straße gesperrt“ ignoriere… Ob ich denn das Schild nicht gesehen hätte??? (doch, aber es lag neben der Straße auf dem Boden…) Ich müsste bitte umdrehen. Na gut, haben Emma und ich eben ein interessantes Wendemanöver auf einer einspurigen Straße hingelegt und ich bin dann die Straße zu Fuss entlang gelaufen (von einer Baustelle natürlich keine Spur…) Und bei 25 km und über 700 Höhenmetern kommt es ja dann auch nicht mehr auf 2 km mehr an…
Der Berg Suilven ist mit seinen 731 Höhenmetern übrigens noch nicht mal ein richtiger „Munro“. Die Schotten teilen ihre Berge nämlich in drei Kategorien ein: „Munros“, ab 3000 Fuss (914 Meter), „Corbetts“ ab 2500 Fuss (762 Meter) und „Grahams“ ab 2000 Fuss (610 Meter). Obwohl also eher ein kleiner Berg, ist er durch seine spezielle Silhouette sehr bekannt.
Ich könnte mal kurz das Wetter erwähnen: es ist trocken (juhu), aber die Wolken hängen sehr, sehr tief. Von der bekannten Silhouette des Berges keine Spur, alles tief in den Wolken eingehüllt. Na prima. Wenn das so bleibt, lasse ich den Gipfelsturm bleiben und genieße einfach nur die Wanderung zum Fuss des Berges – und die allein dauert schon einmal zwei Stunden hin und zwei Stunden wieder zurück zum Parkplatz (für die eigentliche Besteigung werden dann nochmal zwischen drei und fünf Stunden veranschlagt).


Als sich dann auch noch mein Knöchel unglücklich meldet, schlage ich mir den Gipfel endgültig aus dem Kopf … bis, ja bis einmal dann doch kurz der Berg ganz rausschaut (für knappe fünf Minuten), mein Knöchel wieder ruhig ist und ich sogar noch zwei Menschen vor mir sehe. Und ich denke mir so, wenn die den Gipfel trotz Wolken besteigen, dann könnte ich es ja vielleicht auch mal versuchen… (wenn es insgesamt drei machen, dann ist es ja nicht ganz so verrückt, oder?) Tatsächlich treffe ich, als es dann stetig immer steiler nach oben geht, auch noch zwei weitere Wanderer, die schon auf dem Rückweg sind und von oben kommen, sie bestätigen mir, das man oben nix sieht, aber der ältere Mann meint auch: na, wenn du jetzt schon hier bist, kannst du ja auch einfach mal weiter laufen. Und das mache ich dann auch 🙂

Es ist steil, aber noch geradeso (für mich) machbar. Und obwohl ich mich für einen der langsamsten Wanderer halte, die es gibt, hole ich das Pärchen vor mir doch tatsächlich irgendwann ein (kurze Freude, das es tatsächlich noch jemanden gibt, der langsamer als ich wandert 😉 ) Es ist total schön, das ich nicht komplett alleine am Berg bin, wir unterhalten uns kurz und ich wandere bzw. kraxle langsam weiter.
Und dann komme ich am Sattel an. Die letzten Meter waren nicht mehr ganz so witzig, aber es ging gerade noch so. Links und rechts erhebt sich eine Bergspitze, ich muss gleich nochmal schauen, welche die höhere und damit die Gipfelspitze ist (die beiden Spitzen haben nur einen Höhenunterschied von 30 Metern). Vor mir: Wolken. Links und recht ein Stück vom Sattel und dann wieder: Wolken. Naja, das war ja abzusehen.

Ein paar Sekunden später sieht man eigentlich fast gar nix mehr und ich frage mich schon, ob das so clever ist, jetzt weiterzulaufen, als plötzlich Wind aufkommt und man zusehen kann, wie die Wolken weggeschoben werden… Ein absoluter Wahnsinn, gerade war noch alles in den Wolken versteckt und plötzlich habe ich einen sagenhaften Ausblick. Da es mittlerweile 2 Uhr nachmittags ist, hatte ich schon längst nicht mehr damit gerechnet, das es noch aufklart und bin jetzt ziemlich überwältigt.

Die „restlichen“ 100 Höhenmeter oder so sind zwar nochmal ziemlich anspruchsvoll, laufen aber deutlich besser, jetzt wo ich weiß, das es sich tatsächlich gelohnt hat. Eine halbe Stunde später stehe ich tatsächlich am Gipfel des Suilven, genieße die Sicht auf Berge, Seen und die Küste und kann es eigentlich noch gar nicht richtig glauben, das ich jetzt tatsächlich auf demselben Berg stehe, den ich vor ein paar Jahren mal in einem Film gesehen habe und auf den ich damals total gerne mal gewandert wäre.



Der Rückweg ist dann natürlich nochmal anstrengend weil steil, hin und wieder rutschig und einfach sehr lang und meine Füsse fühlen sich nur noch so mittel an, als ich endlich abends um halb acht am Parkplatz bin. Ich freu mich, das ich jetzt nicht nur ein Auto zum ausruhen habe, sondern gleich eine Dusche und ein Bett (Sorry, Emma) und es ist auch schön, das sich jemand mit mir freuen wird, das ich diesen Berg geschafft hab.
Tatsächlich ist meine Vermieterin ein Schatz, freut sich mit mir, als ob sie den Berg mit bestiegen hätte, öffnet eine Flasche Wein zur Feier des Tages und wir sitzen bis es dunkel wird (und das wird es hier immer noch erst sehr, sehr spät) am Küchentisch, quatschen, trinken (zu viel) Wein und beobachten irgendwann wieder den Dachs nur zwanzig Zentimeter vor unserer Nase.
Und obwohl ich mich auch wieder aufs Weiterfahren freue, bin ich auch ein bisschen traurig. Hier, in der Gegend, bei der Vermieterin hätte ich auch noch ein paar Tage bleiben können. Aber gut, mein Budget freuts 😉 Das ist doch in den letzten Tagen ein bisschen überansprucht worden… Airbnb ist leider mittlerweile vom Schnäppchen weit entfernt, aber das hier war es auf jeden Fall wert!
